Sonntag, 20. November 2011
Der Pflug des Pfeils
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Freitag, 18. November 2011
Der Flug des Pfeils
Er ging langsam zu seiner eigenen Unterkunft zurück, in die er sich ansonsten selten aufhielt. Er wollte allein sein, vor allem mit seinen Gedanken und seinem Versagen. Der Regen hatte zugenommen und wusch einen Teil des Schmutzes und Blutes ab, den er bisher noch nicht wahrgenommen hatte. Er blieb stehen, hielt sein Gesicht in die strömende Nässe und versuchte, durchzuatmen. Die Entscheidung war gefallen. Seine Gedanken überschlugen sich, doch er würde sie ordnen. Der Kampf würde Konsequenzen haben. Er konnte und wollte nicht mehr bleiben, nicht dort, wo er in den letzten Jahren nicht eben Ruhm geerntet hatte und sich jetzt noch dem Spott seiner Gegner aussetzen musste. Er hatte sich überschätzt und so schmerzlich es war, sich dies einzugestehen, so wollte er doch nicht blind die nächsten Entscheidungen treffen.
Er hatte Ansehen und die Frau, die er liebte, eingebüßt, beim nächsten Mal konnte es ihn sein Leben kosten.
In seiner Unterkunft angekommen, zog er die nassen Kleider aus. Nur das Allernötigste würde er mitnehmen, leichte Sachen, die er über lange Strecken tragen konnte, seine Waffen und.....
Er hielt inne, wickelte sich in eine Decke und setzte sich auf den Boden. Sein Kopf sank tiefer und er lauschte dem Schmerz und der wohlvertrau-
ten Einsamkeit in seinem Innern. Er würde keine Familie haben, keine Freunde auf seiner langen Reise, keinem Stamm angehören, in dessen Schutz er leben konnte. Vielleicht war der Rat des weisen Mannes richtig, er solle zunächst versuchen, sich selber zu finden.
Er blickte hoch, als im Eingang Chaco erschien. Obwohl er ihn erwartet hatte, war es ihm jetzt nicht recht, ihn zu sehen. Sein Freund ließ sich wortlos ihm gegenüber nieder. Eine Weile schwiegen sie, bis Chaco seinen Arm berührte.
„Was wirst du tun?“
„Ich gehe in den Norden, zum Stamm meiner Mutter!“
Einmal ausgesprochen, bekamen die Worte für ihn eine neue Gestalt.
„Ein weiter Weg und ein gefährlicher, du bist ihn nie gegangen. Du weißt, dass du nicht fort musst. Niemand zwingt dich, den Stamm zu verlassen; ein Weg lässt sich auch hier finden.“
Ponkalo lachte ohne Freude in der Stimme. „Hier suche ich meinen Weg schon viel zu lange vergeblich. Es ist auch meine Schuld, ich weiß es. Niemand hat versäumt, mich darauf hinzuweisen.“
Chaco hob die Schultern. „Du solltest deinem Vater nicht Unrecht tun, er hat versucht, dir zu helfen. Doch seit dem Tode Petars redest du nicht mehr mit ihm.“
„Ich habe auch vorher kaum mit ihm geredet. Es interessiert ihn nicht, was mich bewegt. Solange ich nicht zu den Übungen für Krieger erschien, gab es für ihn nichts, worüber zu sprechen lohnte.“
„Du hättest besser an den Übungen teilgenommen, dann wäre dir heute einiges erspart geblieben, obwohl ich froh bin, dass du die Frau los bist.“ Er ignorierte Ponkalos düsteren Blick.
„Ich würde dir helfen, mein Freund und Bruder, wir können es überall gemeinsam schaffen. Wir beide wissen sehr gut, dass du ein Krieger sein kannst, auf den jeder Stamm stolz wäre. Gegen Tetochio waren deine Chancen zu gering. Er ist seit Jahren Häuptling, erfahren und erprobt. Eines Tages wirst du ihn besiegen, doch noch ist es nicht soweit.“
In Ponkalos Augen erschien ein wenig mehr Wärme.
„Es stimmt, du bist mein Bruder und einige andere ebenfalls. Den Vorstellungen meines Vaters werde ich niemals genügen. Seine Pläne sind mir gleichgültig. Mein wirklicher Vater war Petar. Was er mich lehrte, war mir wichtiger als die Schnelligkeit des Pfeils aus meinem Bogen oder andere Übungen. Seit seinem Tode fühle ich mich hier nicht mehr wohl.“
Chaco betrachtete ihn aufmerksam. „Was möchtest du denn?“
„Ich kann es nicht sagen. Doch hier finde ich die Antworten auf meine Fragen nicht.“
„Dann steht dein Entschluss fest?“
Ponkalos Rücken straffte sich. „Ja, ich werde gehen.“
Auch in Chacos Augen erschien nun Entschlossenheit. „Ich werde mit dir kommen.“ Die Worte standen einen Augenblick im Raum, als wären sie nicht ausgesprochen worden, aber dann schüttelte Ponkalo den Kopf.
„Ich würde gerne mit dir diese Reise unternehmen, es wäre gut, dich an meiner Seite zu haben. Doch der Stamm braucht dich und du hast eine Frau, mit der du zusammen sein willst. Du hast Pläne, die ich nicht habe. Ich kenne mein Ziel noch nicht.“
Chaco erhob sich, er war ein hochgewachsener Krieger. Nur Ponkalo überragte ihn noch um ein kleines Stück, es hatte beide zu einer Einheit bei den Übungen gemacht. Er wusste, Ponkalo hatte Recht. Sein Anspruch, die Krieger als Häuptling zu führen, würde er wohl verlieren und möglicherweise auch die Frau nicht behalten, mit der er zusammen sein wollte, solange er denken konnte.
Jedoch zusammen mit seinem Freund in dieses große Abenteuer aufzubrechen, durch unbekannte Wälder zu streifen, Kämpfe zu führen mit fremden Kriegern und in dieses sagenumwobene Land des Nordens zu gelangen, von dem der Häuptling in langen Winternächten erzählte, das war verlockend. Ponkalos Niederlage war vorhersehbar gewesen, auch ohne die Fähigkeiten des weisen Mannes. Sein Freund wollte weg, das war für Chaco schon seit langem kein Geheimnis mehr. Es hatte seine Gedanken ebenso beschäftigt und sein Entschluss war keine plötzliche Idee.
„Wir werden zusammen gehen, mit niemandem kannst du ansonsten in der Sprache Petars reden oder willst du sie verlernen?“
Auch Ponkalo erhob sich. Sie kannten sich gut genug, um zu wissen, wann das Gespräch beendet war.
„Das ist ein guter Grund, zusammen zu bleiben.“ Er lächelte jetzt.
„Dann lass uns aufbrechen, sobald es Morgen wird.“

(Mechelen anno domini 1520)

Berangere und Eleonore rannten so schnell sie konnten, um die schützende Hecke zu erreichen. Schwer atmend blieben sie stehen. Keuchend lachten sie sich an, Eleonore presste die Hand auf ihr Mieder.
„Ich bekomme kaum noch Luft, meine Dienstmagd hat mich zu eng geschnürt.“
„Du solltest eben nicht so eitel sein, deine Taille ist auch ungeschnürt tadellos. Außerdem hast du die Worte des Priesters bei der Morgenmesse offenbar nicht sehr ernst genommen.“
Abermals brachen sie in Gelächter aus. Es war zu schön, sich den ernsten Augen der priesterlichen Lehrer zu entziehen, den Lateinunterricht zu versäumen und ein wenig durch die Gärten zu streifen. Ihre Lateinkenntnisse litten entsprechend und die Strafpredigten waren unausweichlich, ebenso ihr stets rügenswertes Verhalten.
Als Tochter eines burgundischen Fürsten und einer französischen Adeligen kam Berangere an den Hof nach Mechelen, um die ihrem Stand entsprechende Erziehung zu vervollständigen und freundete sich schnell mit Eleonore, der Tochter des spanischen Königs Philipp an.
Ihre hohe Herkunft sah man ihnen jetzt nicht an, ihre Kleider waren verschmutzt und verschwitzt und ihre Frisuren in Auflösung begriffen. Berangere stupste ihre Freundin an.
„Hast du ihn wieder gesehen?“
„Ach, Bery, wo denkst du hin, ich komme ja nicht einmal in seine Nähe. Er saß in seiner Kirchenbank und ich habe bemerkt, dass er versuchte, mich zu sehen. Aber Madame de Ronier scheint etwas zu ahnen. Wie eine fette Glucke plusterte sie sich neben mir auf und dröhnte mir ihre Gebete ins Ohr. Beim Hinausgehen kam ich ihm dann ein wenig näher. Er ist der bestaussehendste Mann der Welt.“
Sie stöhnte ein wenig theatralisch und legte abermals die Hand auf ihre Brust.
Berangere lachte. „Er sieht tatsächlich sehr gut aus und ich weiß, dass er sich nicht für eine andere Frau interessiert. Gestern abend sprach er mit seinen Freunden von dir.“
Eleonores Wangen begannen ein wenig zu glühen. „Ist das wahr? Woher weißt du das?“
„Ich habe heute morgen einen kleinen Ausritt gemacht und bat den Stalljungen, mich zu begleiten. Er betreut zufällig auch Friedrichs Pferd, wir sind ein wenig langsam geritten und ... nun ja,“ sie lachte leise vor sich hin, „er ist kein sehr diskreter Bursche.“
Staunend und bewundernd blickte Eleonore sie an. „Wie kommt es, dass du solche Informationen erhältst? Ich könnte tagelang neben einem Stallburschen reiten und wir würden kein Wort wechseln.“
„Ich bin keine Herzogin, meine Mutter war aus niederem Adel, ich stehe nicht im Mittelpunkt wie du.“ Ihre Worte klangen freundlich und waren völlig frei von Eifersucht, aber Eleonores Blick wurde plötzlich ernst.
Die beiden Mädchen nahmen auf einer zierlichen Steinbank Platz, wohl geschützt vor den Blicken aus dem Schloss. Berangere bemerkte die Veränderung in der Stimmung und legte ihre Hand auf die der Freundin.
„Es tut mir leid, wenn dich meine Worte an Unangenehmes erinnert haben.“
Eleonore schüttelte langsam den Kopf und drückte Berangere Hand.
„Nein, lass es gut sein, es ist ja nicht deine Schuld. Ich hörte, dass deine Mutter eine große Schönheit war und dein Vater sie sehr liebte. Anfangs war es bei meinen Eltern nicht anders, aber dann wurde meine Mutter krank und alles veränderte sich.“ Sie versuchte, die traurigen Gedanken abzuschütteln und ihr meist heiteres Gemüt gewann wieder die Oberhand.
„Was machen wir an diesem Morgen? Wir könnten in die Küche schleichen, ich habe Hunger. Es schadet dir ebenfalls nicht, etwas zu essen, du bist zu dünn.“
„Ich höre dies den ganzen Tag. Ich werde niemals einen Mann bezaubern. Ich muss mehr zu mir nehmen, als spielten nur runde Hüften die entscheidende Rolle im Leben einer Frau.“
Sie verzog ihren Mund und Eleonore kicherte. „Mit breiten Hüften ist es einfacher, Kinder zu gebären, das ist natürlich wichtig. Selbstverständlich
weiß ich darüber sehr wenig.“
Jetzt lachten beide so laut, dass Berangere sich erschrocken die Hand vor den Mund hielt. Sie sah sich forschend um, doch niemand war in ihrer Nähe.
Beide Mädchen stahlen sich oft heimlich aus ihren Kammern, fehlten im Unterricht oder gaben vor, es sei ihnen während der Messe übel geworden. Ihre gemeinsamen Unternehmungen waren zu vergnüglich, um Strafen zu fürchten. Hinter Büschen oder in den großen, weit fallenden Vorhängen versteckt, hatten sie schon einige Schäferstündchen beobachtet. Sie sprachen allerdings kaum über das Gesehene, teils aus Scham, teils aus Unwissenheit. Noch war es ihnen unvorstellbar, selbst in eine derartige Situation zu geraten, selbst für die etwas ältere Eleonore. Das war auch nahezu unmöglich. Die kleinen Ausbrüche blieben nie lange unentdeckt und sie waren eher selten allein. Ihre Tante, Erzherzogin Margarete, hatte ein waches und aufmerksames Auge auf die ihr anvertrauten jungen Leute.
So waren sie auch nicht wirklich überrascht, als ein Schatten auf sie fiel. Der schwarze Diener, den Berangeres Vater angewiesen hatte, seine Tochter nie aus den Augen zu lassen, tauchte plötzlich wie ein Geist auf. Eleonore stieß einen kleinen Schrei aus und erhob sich schnell. Vergeblich versuchte sie, den Schmutz aus ihren Kleidern zu klopfen.
„Nun denn, der Ausflug scheint vorüber. Kannst du deinem Diener nicht begreiflich machen, dass er sich nicht so anschleichen soll? Ich erschrecke jedes Mal zu Tode. Groß, schwarz und unhörbar.“ Sie musterte ihn mit offensichtlichem Missfallen.
„Ich werde versuchen, unbemerkt zurück zu gelangen. Wir sehen uns beim Nachtmahl.“
Berangere sah ihr nach. In ihren Augen war die Freundin das schönste Mädchen am Hofe und die Liebenswerteste. Ihre Vertrautheit ließ sie die Trennung vom Vater leichter ertragen. Ein wenig enttäuscht wandte sie sich an ihren Diener: „Musste das sein? Konntest du uns nicht noch ein wenig mehr Zeit lassen?“
Er antwortete nicht auf ihre Frage. „Als ich heute morgen zu deiner Kammer kam, warst du schon ausgeritten.“
Mit beiden Händen fasste er sie an den Armen und schüttelte sie ein wenig.
„Berangere, das darfst du nicht. Du bringst dich völlig unnötig in Gefahr. Es gehört sich nicht, nur in Begleitung eines Knechtes zu reiten, noch dazu beinahe in der Dunkelheit. Sollte dein Vater davon erfahren, sind wir beide in Schwierigkeiten.“
Sie wusste, dass in diesem Fall seine Schwierigkeiten weit größer waren als die ihren. Ihre Schuldgefühle machten sie zornig.
„Lass mich los, was fällt dir ein. Du würdest noch mehr Schwierigkeiten bekommen, wenn man dich so sieht. Wenn ich mich wie eine Dame verhalten soll, musst du mich auch so behandeln. Ich lasse mich nicht mehr von dir wie ein dummes Kind anfahren oder bestrafen, mit oder ohne Billigung meines Vaters.“
Sein Gesicht wurde unzugänglich und er trat einen Schritt zurück.
„Ich bitte um Verzeihung.“
Ihr Unwillen verflog so schnell, wie er gekommen war. „Es gibt keinen Grund, nun besonders servil erscheinen zu wollen. Es war noch nie deine Art und ich lege auch keinen Wert darauf.“
Sie lächelte ihn ein wenig schuldbewusst an.
„Nun komm schon, Ukuma, sei mir nicht böse, ich verspreche dir, mich zu bessern.“
„Das versprichst du mir einmal in der Woche. Ich bringe dich zurück.“ Miteinander versöhnt gingen sie gemeinsam zum Fürstenhof.

Der Winter ging allmählich ins Frühjahr über, die Sonne erwärmte die Erde. Wasserpfützen, die den ganzen Winter den Garten nahezu unbegehbar gemacht hatten, begannen zu trocknen. Berangere dachte mit Wehmut an den Sommer daheim, an die Gerüche, die Menschen und die völlige Unbeschwertheit ihrer Kindheit im grünen Burgund. Dies war nicht selbstverständlich, wie sie aus den Schicksalen der Gleichaltrigen an den Höfen zu Amboise und Mechelen erfahren hatte. Ukuma hatte über sie gewacht. Er war da, wenn sie als kleines Kind fiel. Er tröstete sie, als eine bösartige Gans auf ihre Schulter flog und auf sie einhackte. An ihren ersten Schreibübungen nahm er ebenso teil, wie an ihren kleinen Geheimnissen. Meist war er schon informiert, bevor ihre Sünden das Ohr des Beichtvaters erreichten.
Seit dem ersten Tag ihres Lebens, zugleich der Todesstag ihrer Mutter, war er ihr Diener. Selbst noch ein Junge, der ihrem Vater von einem Schuldner überlassen wurde, nahm er seine Aufgabe ernst.
Berangere warf ihm einen Blick zu. Einige Damen von Stand hatten versucht, ihn ihrem Vater abzukaufen, doch dies war nie erwogen worden. Natürlich war er nur ein Sklave, ein schwarzer obendrein, ein edles Pferd wies einen höheren Wert auf. Doch über Gerede, dass Menschen wie er keine wirklichen Gefühle kannten, konnte sie nur lachen. Sie wusste zu gut, wie oft sie Ukuma verletzt hatte. Sie hatte unangemessenen Stolz mehr als einmal in seinen Augen gesehen. Seine Schmerzen, wenn er sich verletzte, häufig genug, um sie zu schützen, sahen ihren eigenen Empfindungen sehr ähnlich. Eines Tages würde er in ihren Besitz übergehen und von ihr dann seine Freiheit erhalten. Seine Möglichkeiten wurden dadurch nicht größer, er würde immer des Schutzes eines großen Namens benötigen. Doch dies war kein Problem. Ihr zukünftiger Gatte war sicher ein Fürst oder gar ein König. Ihre Tante, die Großherzogin, hatte ihr Hoffnungen gemacht. Aber bis dahin verging noch viel Zeit, die sie mit allen Vergnügungen erleben wollte, die der Hof in Mechelen zu bieten hatte.
Auf der großen Treppe begegnete ihr Elisabetha. Hübsch und dünkelhaft wie immer, musterte sie Berangere von oben bis unten.
„Nun, meine Liebe, wieder mit den Hunden im Stall gespielt?“ Sie wedelte affektiert mit der Hand vor ihrem Gesicht. „Dieser Geruch! Was ist es diesmal? Pferde? Nicht zu glauben, dass du aus Amboise hierher gekommen bist. Ich nahm immer an, die Franzosen hätten eine besonders feine Lebensart. Man sagt es ihnen zumindest nach, aber Gerüchte sind ja häufig übertrieben.“
Berangere wollte an ihr vorbei, ohne ihre Gehässigkeiten zu kommentieren, aber Elisabetha war noch nicht fertig.
„Einige Tuchhändler aus Italien sind eingetroffen. Die Herzogin erwartet dich und Eleonore, um mit euch eine Auswahl zu treffen. Bedauerlicherweise ist das Beste schon weg.“
Wortlos lief Berangere die Treppe hoch und ließ Ukuma hinter sich.
„Dummes Ding“, dachte sie verärgert, Elisabetha konnte es nicht lassen, sie zu hänseln. Franzosen waren nicht übermäßig beliebt am Hofe, obwohl sogar die Herzogin einen Teil ihrer Kindheit als Braut des Dauphins in Frankreich verbrachte. Als enge Freundin von Berangeres Mutter hatte sie mehrere Jahre am französischen Hofe gelebt.
Berangere ging mit gerade noch angemessener Schicklichkeit zu ihrer Kammer und öffnete die Türe. Ihre Zofe untersuchte soeben die verschiedenen Cremetöpfe auf ihrem Toilettentisch. Erschrocken fuhr sie herum. Berangere wehrte ihre Entschuldigung und Erklärung mit einer Handbewegung ab.
„Beeile dich! Ich muss mich waschen, umkleiden und frisieren, ich habe wenig Zeit.“ Sie sank auf einen Sitz und überließ sich der Dienerin.
Wenig später verließ nicht mehr das verwilderte Mädchen die Kammer, sondern eine Dame vom wohlfrisierten Kopf bis zu den zierlichen Schuhen. Auch auf ihre Haltung hatte sich die Kleidung übertragen, sie ging mit aufrecht erhobenem Kopf, jeder Zoll eine junge Adelige. Ihre Tante legte Wert auf Disziplin und wurde nicht müde, den jungen Leuten Fleiß und tadelloses Verhalten anzuraten. Nur so konnten sie in der Welt der Politik und des Herrschens bestehen. Von ihrem Vater als Statthalterin der Niederlande eingesetzt, wusste sie um die Wichtigkeit einer umfassenden Erziehung.
Nicht allen jungen Leuten am Hofe in Mechelen würde eine solch glanzvolle Zukunft beschieden sein. Die meisten machten sich mehr Gedanken über die Jagd oder die großen Feste. Eleonore und Berangere hingegen interessierten sich für die politischen Zusammenhänge und das komplizierte Interessengeflecht der adligen Familien. Sie waren sich im klaren, wie wichtig dieses Wissen eines Tages sein konnte.
Jetzt hingegen, als ein Diener ihr die große Flügeltür öffnete, bot sich ihr ein Bild, das nichts gemein hatte mit den üblichen Stunden bei der Tante. Die lange Tafel war über und über mit Stoffen bedeckt. Dazwischen eilten junge Damen, aus allen europäischen Fürstenhäusern stammend, geschäftig hin und her. Die Erzherzogin bewegte sich munter in dieser Schar und dirigierte Händler und Dienstmädchen mit freundlicher, beinahe leiser, aber trotzdem energischer Stimme. Sie war noch eine gutaussehende Frau, dachte Berangere, obwohl immerhin schon Mitte dreißig. Wenn sie vom Tode ihrer beiden Ehemänner sprach, konnte sich ihr Gesicht vor Kummer verdunkeln. Sie musste die beiden sehr geliebt haben.
Jetzt allerdings strahlte sie Heiterkeit aus. Sie bemerkte Berangere und winkte sie zu sich.
„Wo bleibst du denn, mein Kind? Du möchtest doch sicher auch einige schöne Stoffe finden. Dein Vater schrieb mir, er möchte dich mit dem Besten ausgestattet sehen.“
„Ihr habt einen Brief von meinem Vater erhalten?“
„Ja, auch für dich hat er einige Zeilen beigelegt. Ich werde sie dir nach der Mittagsruhe geben. Hier ist es nicht möglich, darüber zu reden.“
Sie schob Berangere zur Tafel und ermunterte sie abermals, sich mit Hilfe der Schneiderin etwas auszuwählen, doch Berangere war plötzlich die Lust auf Kleider und Stoffe vergangen. Sie hatte ein unangenehmes Gefühl. Was konnte es bedeuten, dass ihr Vater sich zunächst an die Tante wandte? Sie entdeckte Eleonore, die schon eine Weile vor ihr gekommen war und ebenfalls nach Stoffen suchte. Zusammen machte es mehr Vergnügen, die beiden Mädchen vertieften sich in Überlegungen und sie vergaß ihre Bedenken für eine Weile. Sie liebte schöne Kleider und den wertvollen Schmuck, der einst ihrer Mutter gehörte und den ihr Vater ihr schon gegeben hatte, als sie noch ein kleines Mädchen war. Wer hätte ihn sonst auch anlegen sollen. Jedes einzelne Stück stammte entweder aus der Familie oder hatte er für seine geliebte Frau erworben.
Eine Wiederheirat, die sicher von ihm erwartet wurde und auch üblich war, hatte er bisher nicht in Betracht gezogen. Früher war es für Berangere selbstverständlich, ihn allein für sich zu haben. Eine fremde Frau an seiner Seite zu akzeptieren, wäre ihr sicher schwer gefallen.
Eleonore riss sie aus den Erinnerungen an die letzte Favoritin ihres Vaters in Amboise, in dem sie ihr einen Spitzenstoff mit Silberborte zeigte.
„Das sieht wundervoll aus,“ meinte Berangere, „dies über jene taubenblaue, italienische Seide und du siehst schon aus wie die Königin, die du eines Tages sein wirst.“
Eleonore errötete vor Freude. Beide Mädchen dachten bei diesen Worten noch nicht im geringsten an die Zukunft, sondern vielmehr an den jungen Mann, der sich für Eleonore interessierte. Mit diesen schönen Gewändern wollte sie nur ihn beeindrucken.
Eleonore nahm den Stoff in die Hand und strich prüfend darüber. Mit ihren Augen signalisierte sie Berangere, dass es etwas zu berichten gab. Kaum wahrnehmbar nickte ihre Freundin und meinte dann laut:
„Bitte Eleonore, tritt an das Fenster, um mir zu raten, ob mir die Farbe auch bei Tageslicht steht.“
Mit einigen Mustern entfernten sie sich in eine Fensternische.
„Morgen gibt es eine Jagd, an der Friedrich teilnimmt,“ flüsterte Eleonore. „Wir müssen unbedingt dabei sein, damit ich einige Worte mit ihm wechseln kann.“
Berangere runzelte die Stirn und hielt den Stoff noch näher an das Licht.
„Das ist kein Problem. Ich werde um Teilnahme bitten und dich dabei einbeziehen. So fällt kein Verdacht auf dich, an dieser Jagd ein besonderes Interesse zu haben.
„Sei unverfänglich in deinen Reden,“ bat Eleonore, „ich weiß, dass einige Damen an Friedrich Interesse haben und seine Umgebung eifersüchtig beobachten.“
„Dann musst du selbst auch sehr zurückhaltend sein.“ Leicht miteinander plaudernd schlenderten sie langsam zurück. „Achte auf deine Augen, wenn du mit ihm sprichst, deine Bewegungen, alles kann verräterisch für Interessierte sein.“
Kein Hauch eines Verdachtes durfte auf Eleonore fallen. Eine Verbindung mit dem gutaussehenden Friedrich von der Pfalz war undenkbar und konnte unangenehme Folgen haben. Sie konnten nur wenigen vertrauen, die Versuchung, sich mit einer Information bei der Erzherzogin einzuschmeicheln war zu groß.
Eleonore beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Berangere mit ihrer Tante sprach. Beide lachten entspannt. Berangere besaß nicht die glatte, ein wenig üppige Schönheit, die Elisabetha, die junge Österreicherin, auszeichnete. Dennoch wirkte alles an ihr anziehend. Sie glich einer Elfe, mit langen, schmalen Gliedern, dem noch etwas kantigen Gesicht und beherrschend großen, dunkelblauen Augen, die im Kontrast zu ihrer hellen Haut standen. Sie zog die Blicke der Menschen auf sich, sobald sie in Erscheinung trat.
Mit ihrer Hilfe war es einfacher, Friedrich wiederzusehen. Sie würde mit ihm sprechen können. Dies war ein schwieriges Unterfangen, es gab wenig Gelegenheit, sich zu sehen. Trotzdem hatten sie sich ineinander verliebt. Eleonore erinnerte sich noch an jeden Augenblick ihrer Bekanntschaft, seine wenigen Worte, seine kurzen Berührungen beim Tanz oder wenn er ihr hilfreich den Steigbügel hielt. Sie hätte nicht sagen können, was sie von dieser Liebe erwartete, aber das hatte sie sich nie gefragt. Sie würde sich ihrer Bestimmung fügen und den Mann heiraten, den ihr Großvater Maximilian für sie bestimmte. Doch beim Anblick von Friedrich schlug ihr Herz schneller und sie hatte stets das Gefühl, in Atemnot zu geraten.
„Morgen in der Frühe treffen wir uns im Hof zur Jagd.“ In Berangeres Augen tanzte ein Lächeln. „Tante Margarete wollte ebenfalls teilnehmen, hat jedoch anderweitige Verpflichtungen. Unsere Jagdgesellschaft wird recht klein sein.“
Im Hintergrund begannen die Dienerinnen, Stoffe und Waren zusammen zu räumen. Es wurde Zeit, sich im Speisesaal einzufinden. Langsam leerte sich der Raum. Auch Eleonore verabschiedete sich. Nachdenklich blickte ihr Berangere nach. Sie gönnte der Freundin die harmlose Liebelei. In Amboise waren Affären an der Tagesordnung, niemand nahm dies ernst. In Mechelen unter der Führung von Margarete von Österreich dachte man völlig anders.
Sie schlug den Weg in den Garten ein. Nur nicht abermals essen müssen. Auch wenn die Tante im Vergleich zum Leben am französischen Hof eher bescheiden Hof hielt, so wusste man doch gute und vor allem reichliche Mahlzeiten zu schätzen. Die üppigen Tafeln waren ihr zuviel.
Das Wetter war wie geschaffen dafür, den Tag draußen zu verbringen. Sie bog um die Ecke und sah ihren Lieblingsplatz in der Sonne schon besetzt. Abt Anton, ihr Beichtvater, las in einem Buch. Er hob den Kopf, als er ihre Schritte hörte.
„Komm, setz dich zu mir.“
Zögernd trat sie näher. „Ich möchte nicht stören.“
Er winkte ab und sie nahm neben ihm Platz. Er sah müde und angespannt aus. Sie bemerkte die Falten in seinem Gesicht, die heute schärfer hervortraten.
„Habt ihr Sorgen, Vater?“
Der Abt sah in das Gesicht des jungen Mädchens und überlegte, ob sie schon in der Lage war, seine Worte zu begreifen. Doch viele der jungen Leute, beinahe Kinder noch, trafen in wenigen Jahren Entscheidungen. Sie zu schonen und ihre Kindheit zu verlängern war nutzlos.
„Manchmal mache ich mir Gedanken, wie es weiter gehen soll,“ meinte er mit einem tiefen Seufzer. „In allen Ländern ist große Unruhe. Die Berichte meines römischen Gastes sind besorgniserregend. Die Menschen sind unzufrieden, sie fragen nach Gründen und man kann ihnen nur den Glauben an Gott anbieten.“
„Womit sind die Menschen unzufrieden?“
„Du weißt sicher, dass ein Medici zum Papst gewählt wurde. Papst Leo ist ein kluger, aber auch sinnenfroher Mann, der die Interessen seiner Familie wahren möchte. François von Frankreich siegte bei Marignano. Was für die Franzosen von Vorteil ist, wirkt sich stets nachteilig auf das Haus Habsburg aus.“
Berangere, durch die Heirat ihrer Eltern mit dieser Tatsache vertraut, nickte.
„Der Papst,“ fuhr der Abt fort, „versucht, beiden gerecht zu werden und wird damit keinem gerecht. Eine schwierige Lage. In jedem Falle möchte er sie aus Italien heraus halten. Allein dies ist nur eine Seite.
Die Gläubigen beklagen sich allenthalben über die Handhabung der Ablassregelung. Viele Mönche machen ein zweifelhaftes Geschäft aus dem Glauben und bereichern sich. Der Unwille im Volk wächst, dass ein Mann von Stand leichter Sündenerlass erreichen kann.“
„Aber,“ warf Berangere ein, „man ist doch nicht zufällig hochgeboren, es ist Gottes Wille. Es obliegt ihm, ob ein Mensch als König oder Bauer zur Welt kommt. Niemand kann dies ernsthaft in Zweifel ziehen. Er hat uns besondere Gaben verliehen und wir sind von anderer Art als die einfachen Leute.“
„Das ist wohl richtig. Der Zorn der Menschen richtet sich ja auch nicht gegen die Obrigkeit, sondern gegen die Art und Weise, wie der Glaube gehandhabt wird. Seit es die Kunst der schnellen Verbreitung von Schriften gibt und jeder einen Handzettel erwerben kann, findet dieses Gift seinen Weg in alle Ohren, die es hören wollen. In Antwerpen und Paris arbeiten die Druckerpressen Tag und Nacht.“
Beide schwiegen einen Augenblick und hingen ihren Gedanken nach.
„Denkt ihr, es wird einen Aufstand geben?“
Nachdenklich wiegte der Abt den Kopf. „ Ich hoffe es nicht. Es hängt davon ab, ob der Papst das Rechte unternimmt. Seit Jahren steht eine Reform der Kirche an, doch ob er den Willen und die Kraft hat, diese durchzusetzen, weiß ich nicht.“
Er sah sinnend in den Garten. Die Sonne zog sich hinter die Wolken zurück, es wurde kühler.
„Du musst das Mittagsmahl versäumt haben, Berangere. Hast du wieder keinen Appetit?“
Als sie wortlos den Kopf schüttelte, meinte er schmunzelnd: „Nimm es dir nicht so zu Herzen, ich selbst esse auch nicht viel und bin, Gott sei es gedankt, sehr gesund. Fehlende Rundungen werden zu gegebener Zeit schon kommen.“
Er erhob sich und stützte seinen Rücken. „Nur die Knochen, die merke ich nach einem langen, kalten Winter wieder etwas mehr.“
Auch Berangere erhob sich eilig, gemeinsam gingen sie zurück zum Schloss. Am Garteneingang bemerkte sie Ukuma, der gelangweilt mit einem Messer hantierte. Er verschwand hinter den Wirtschaftsräumen, als sie den Hof betraten.
„Habt ihr mit der Erzherzogin gesprochen? Sie weiß doch immer genau, was vorgeht und empfängt viele Kuriere mit Nachrichten.“
Abt Anton blieb stehen und nickte. „Sicher. Sie lud mich und meinen Besucher gestern zum Nachtmahl. Aus den verschiedenen Teilen des Landes kommen ähnliche Berichte, doch das wird sie euch selbst erzählen.“
Berangere neigte ihren Kopf noch einmal grüßend und ging dann eiligen Schrittes zu den privaten Zimmern der Tante.
Innerhalb der Schlossmauern war es noch empfindlich kühl. In den meisten Räumen befanden sich zwar Kamine, doch auch im Winter wurden diese nicht alle beheizt. Einige Dienstboten, die geschäftig mit Esswaren oder Wäsche die Gänge bevölkerten, husteten und schnieften heftig. Während eine Zofe der Erzherzogin sie noch vor der Tür warten ließ, überprüfte sie in einem Wandspiegel schnell ihre Erscheinung. Schließlich durfte sie eintreten.
„Tritt näher, mein Kind, und nimm Platz.“ Die Erzherzogin wies auf einen samtbezogenen Hocker neben ihrem Ruhebett und Berangere setzte sich zu ihr.
„Ihr sagt, ihr habt Nachrichten von meinem Vater?“
„Ja, ich habe eine Nachricht erhalten. Es geht deinem Vater gut, er ist von seiner langen Reise gesund zurück. Zur Zeit befindet er sich auf dem Weg zum Kaiser. Ich nehme an, sie kommen gemeinsam hierher. Ich muss gestehen, ich bin ebenfalls begierig, von seinen Erlebnissen zu erfahren. Eine Welt voll neuer Schätze zu erforschen und zu erobern ist eine große Herausforderung. Dein Vater sah Dinge, die vielleicht niemand zuvor sah. Du kannst sehr stolz auf ihn sein.“
„Mein Vater ist kein Seefahrer oder Entdecker,“ flüsterte Berangere, die spürte, wie ihr die Kehle eng wurde. „Er hat Ländereien zu verwalten, Besitz und Menschen, die von ihm abhängen.“
Sie sprach nicht weiter, es schien ihr unangemessen, sich selbst zu erwähnen, die ihn besonders vermisste. Sie wollte nicht wie ein kleines, weinendes Kind vor der Tante sitzen.
„Berangere, ich weiß, wie sehr du deinem Vater zugetan bist, er wird dir sehr gefehlt haben. Seit dem Tode deiner lieben Mutter warst du ihm das Wichtigste. Du siehst ihr sehr ähnlich, nur die dunklen, blauen Augen und die Haarfarbe sind von ihm.“
Verstohlen und etwas unwillig wischte Berangere die Tränen aus den Augen.
„Aber,“ fuhr die Herzogin fort, „er brauchte eine neue Aufgabe. Mein Bruder entsandte mit ihm einen Vertrauten ohne persönliche Interessen. Die Berichte über Gold und Reichtümer klingen verheißungsvoll. Sie liegen für denjenigen bereit, der in der Lage ist, zuerst dort zu sein. Verstehst du, Berangere, wir brauchen dringend neue Geldquellen. Den Franzosen die Stirn zu bieten, kostet mehr Mittel, als uns zur Verfügung stehen. Aus Rom erhalte ich ebenfalls besorgniserregende Kunde. Ein Medici ist Papst. Ich habe Bedenken, ob er dem Treiben Einhalt gebietet. Lies dies!“
Sie griff zur Seite und reichte Berangere einen Zettel, die ihn nahm und laut las:
„Oh ihr Deutschen, merket recht,
des heiligen Papstes Knecht
bin ich und bring euch jetzt allein,
Gnad und Ablass von eurer Sünd,
für euch, eure Eltern, Weib und Kind.
Sobald der Guelden im Becken klingt,
im hui die Seel in den Himmel springt.“
Als Berangere entgeisterte aufblickte, lachte die Erzherzogin trocken.
„Spottschriften gegen die Kirche findet man allerorts. Es ist nicht einmal abzustreiten, dass manches, was in christlichem Namen geschieht, nichts weniger als christlich ist. Dies jedoch gilt es zu kontrollieren, bevor es weitere Kreise zieht. Aus derlei Widerständen entstehen schnell Unruhen. Doch die Kassen sind leer. Verstehst du nun, warum dein Vater diese wichtige Reise machte? Maximilian vertraut ihm.“ Sie seufzte leicht. „Manchmal habe ich das Gefühl, als verändere sich die ganze Welt. Als dehne ein erwachender Riese seine Glieder aus, dessen Größe man im Schlaf noch nicht zu erkennen vermag.“
Sie blickte auf das junge Mädchen und griff lächelnd nach einem Schriftstück.
„Die Zeilen deines Vaters für dich.“ Berangere erhob sich. Das Gespräch war beendet. Sie konnte nicht warten, schon im Gang erbrach sie das Siegel und las die liebevollen Worte, die ihr Vater schrieb. In wenigen Wochen schon sah sie ihn wieder.
Sie öffnete die Tür zur Kapelle und war erleichtert, sie um diese Zeit leer zu finden. Niederkniend blickte sie sich um. Es war ein schmuckloser Raum, das Auge fand wenig, um darauf zu verweilen. Nichts sollte vom eigentlichen Grund, dem Gespräch zu Gott, ablenken. Sie faltete die Hände und schloss die Augen, um für die sichere Rückkehr ihres Vaters zu danken.


Es war frisch und kühl am frühen Morgen, aus den Nüstern der Pferde stiegen weiße Atemwölkchen. Pferdeknechte hatten sie fertig aufgezäumt und ihnen wärmende Decken übergelegt. Die Jagdgesellschaft ließ auf sich warten. Man wollte sich noch ausgiebig stärken, wenn auch ein Wagen mit Speisen und Getränken folgen würde.
Ukuma strich seinem Pferd leicht über den Nasenrücken. Berangere war eine gute Reiterin, es bestand kaum Gefahr für sie. Dennoch hatte er ein unbestimmtes Gefühl, dass etwas vor sich ging. Sie weihte ihn nicht mehr in ihre Geheimnisse ein.
Er blickte hoch, als eine Tür aufging und seufzte innerlich. Gräfin von Berglahn, eine Hofdame der Herzogin, trat auf ihn zu. Er wappnete sich mit neutraler Freundlichkeit und neigte den Kopf zu einem Morgengruß.
Sie musterte ihn liebenswürdig lächelnd.
„Ukuma, du begleitest uns, ich dachte es mir. Es ist bewundernswert, wie gut du für Berangere und ihre Bedürfnisse sorgst. Sicherlich wird sie bald heiraten, dann braucht sie dich nicht mehr. Denk an mein Angebot, ich habe drei Kinder, wenn dir Kinder so sehr am Herzen liegen, ansonsten....“ sie machte eine wirkungsvolle Pause, „bin ich sicher, es gibt passendere Aufgaben für einen Diener wie dich. Ich könnte dir bei einer Veränderung behilflich sein.“
„Das ist außerordentlich freundlich von ihnen, Madame, und ein beinahe zu ehrenvolles Angebot.“ Er senkte den Kopf in der Absicht, bescheiden zu wirken. „Mein Herr hat nicht die Absicht, sich von mir zu trennen. Er gab mir klare Anweisungen, an die ich mich halten muss.“ Er blickte hoch und sah die leise Enttäuschung in ihrem Blick.
„Sollte sich dies jedoch ändern, werde ich mit einer Bitte zu ihnen kommen.“
Sie wirkte ein wenig getröstet und würde hoffentlich keinen Zorn gegen ihn entwickeln. Er wollte nicht zwischen die Mühlsteine der Interessen geraten. Schon seine kleine Liaison mit der Tochter des Bäckers in Amboise war ein Spiel mit dem Feuer gewesen. Sie hatten sich sehr gerne gehabt und nicht nur Berangere war der Abschied von dort schwer gefallen.
Er schlug die Arme umeinander, um die Kälte zu vertreiben. Erst als es schon beinahe hell war und die beste Zeit zur Jagd schon fast vorüber, sah er die ersten heraustreten. Der Jagdmeister gab das Zeichen, die Meute zu holen. Das aufgeregte Jaulen und Winseln der Hunde machte die Pferde ebenfalls unruhig. Doch es dauerte noch eine Weile, bis alle Jagdteilnehmer zu Pferde saßen. Treiber und Diener bildeten die größere Gruppe.
Berangere und Eleonore trugen warme, elegante Kleidung und ließen sich von Ukuma in den Damensattel helfen. Trotz der Warnung ihrer Freundin konnte Eleonore kaum den Blick von Friedrich losreißen.
Beide Mädchen genossen den Morgen. Berangere fühlte den Wind in ihrem Gesicht, hörte das Bellen der Hunde und die lauten Rufe der Treiber. Die ausgedehnten, wildreichen Wälder gehörten zum Schloss, niemand sonst hatte das Recht, hier zu jagen. Sie konnte mit einem leichten Bogen umgehen, doch heute überließ sie die Jagd den Männern. Bei der ersten Rast begeisterte man sich über die reichliche Beute und stieg erhitzt und mit der aufgeregten Freude vom Pferd, die eine Jagd stets hervorrief. Als Berangere sah, dass Friedrich für Eleonore eine Decke am Boden ausbreitete, trat sie zu den anderen und verwickelte eine der Damen in ein Streitgespräch über die herrschende Herrenmode. Sie erreichte ihre Absicht, als alle aufmerksam wurden und sich beteiligten. Die Herzogin van Bebber hatte eine klare Meinung.
„Je größer die Braguette, desto weniger Substanz,“ meinte sie mit maliziösem Lächeln, nippte an ihrem heißen Wein und lehnte sich provokant an ihr Pferd. Einige Damen lachten und Berangere unterdrückte ein Kichern. So offen wurde am Hofe kaum gesprochen. Die Schamkapsel wirkte in der Tat gelegentlich bei einigen Herren übertrieben, doch es war ungehörig, dies zu bemerken.
Sie warf einen Blick auf Friedrich und Eleonore, die in einiger Entfernung saßen, sich höflich miteinander unterhielten und gelegentlich etwas anreichten. Auch ein aufmerksamer Beobachter konnte darin nichts Bemerkenswertes entdecken. Dennoch spürte sie bei diesem Anblick eine leichte Wehmut und ein Gefühl der Verlassenheit.
Trotz der Chancenlosigkeit musste es wunderbar sein, dies zu erleben.
Sie gab sich einen Ruck. Derlei Gedanken fruchteten wenig. Als das Jagdhorn geblasen wurde, preschte sie als eine der ersten vorweg und machte es Ukuma schwer, ihr zu folgen.
Die Kirchenuhr schlug schon zu Mittag, als die kleine Gesellschaft geschlossen und angeregt miteinander plaudernd über die Kaiserstraat durch den Eingang ritt. Das Schloss war erst kürzlich in einem neuen, eleganten Baustil fertiggestellt worden, der sich von den wuchtigen Bauten der Vergangenheit unterschied. Oberhalb des Torbogens blickte der österreichische Adler den Ankömmlingen entgegen. Knechte kümmerten sich um die Pferde und den Karren mit erlegtem Wild, der in einen Seitenhof rumpelte.
Madame de Ronier segelte auf Eleonore und Berangere zu, die beieinander standen und wedelte wichtigtuerisch mit den Händen.
„Ein Bote ist angekommen. Er hatte es sehr eilig. Ich bin sicher, es geht etwas vor.“ Madame de Ronier gehörte nicht zu den Damen, die sich für zu vornehm hielten, auf Dienstbotengerede zu hören. Eleonore
wandte sich ihr zu und gab sich interessiert.
„Habt ihr etwas in Erfahrung bringen können?“
„Nun, ja,“ Madame de Ronier wurde bescheiden, wenn auch ihr Gesicht vor Mitteilungswillen brannte.
„Man sagt, dass euer Bruder Karl auf dem Wege hierher ist, aber Genaues weiß ich natürlich nicht.“ Sie lehnte sich vertraulich vor und flüsterte Eleonore zu: „Vielleicht geht es ja wieder einmal um eine Heirat, wäre das nicht schön?“
Berangere hatte die geflüsterten Worte nicht gehört, doch sie würde noch früh genug erfahren, welche Nachricht der Bote brachte. Sie machte sich auf den Weg zum Schloss.
Im großen Speisesaal herrschte lebhaftes Stimmengewirr, nicht nur in unterschiedlichen Lautstärken, sondern auch in verschiedenen Sprachen.
Sie entdeckte neben der Erzherzogin die erwähnten Besucher. Es waren einige prächtig gekleidete Herren, deren Jacken aus feinstem Tuch reich bestickt waren. Sie ließ sich neben einer jungen Frau nieder, die sich schon mit gutem Appetit ein Fischragout schmecken ließ. Eine der Bediensteten eilte mit einem Krug Bier herbei, doch Berangere lehnte ab. Neben ihr nahm ein gewichtiger Edelmann Platz, der den Krug Bier nicht verschmähte. Gemütlich lud er enorme Mengen auf seinen Teller und schwatzte fröhlich los.
„Ich nehme noch ein wenig Taubeneier in Safransauce,“ vertraute er ihr augenzwinkernd an, „Safran stärkt die Manneskraft, merkt euch das, wenn ihr einmal einen eigenen Haushalt führt, junge Dame. Ich habe damit beste Erfahrungen gemacht.“
Er lachte polternd, hustete und wehrte das Mundtuch ab, dass sie ihm nicht ganz uneigennützig anbot. Während sie die saucengetränkte Brotscheibe von ihrem Teller aß, betrachtete er sie mit gerunzelter Miene.
„Kein Wunder, dass an euch noch kein Gramm Fett ist. Fleisch wird zu Fleisch, das Brot ist für die Dienerschaft oder die Hunde.“ Sie versuchte vergeblich, ihn davon abzuhalten, ihr noch eine weitere Portion Fleisch auf den Teller zu laden, doch schließlich gab sie erheitert nach. Seine herzhafte und offene Freundlichkeit unterschied ihn so sehr von anderen, dass sie ihn auf Anhieb mochte. Als sie sich verabschieden wollte, hielt er sie leicht am Arm und drückte ihr unauffällig einen Zettel in die Hand.
Immer noch kauend flüsterte er:
„Von Friedrich für Eleonore.“
Während sie sich noch bemühte, sich ihr Erstaunen nicht anmerken zu lassen, winkte er schon wieder einer Magd mit der Bitte um Bier.
Berangere betrat das Kaminzimmer, ein anheimelnder, warmer Raum mit großem Kamin an der Kopfseite. Die Wände bedeckten kostbare Wandteppiche und Gemälde.
Einige Damen stickten, andere unterhielten sich mit Trictrac. Abt Anton saß in einem Lehnstuhl und las einen Brief. Berangere ließ sich auf einen Hocker zu seinen Füßen nieder und wartete geduldig, bis er den Brief sinken lies und das Wort an sie richtete.
„Du warst heute nicht beim Unterricht. Was war denn so wichtig, dass die Texte der griechischen Dichter dahinter zurückstehen mussten?“
Berangere lächelte ihn vertrauensvoll an.
„Wir waren auf der Jagd. Wie kann man die geistige Nahrung verdauen, wenn die körperliche Nahrung nicht zuvor erfolgt?“
Der Abt lachte leise und in seinen Augenwinkeln bildeten sich kleine Fältchen.
„Ausgerechnet du wagst es, mir dieses zu sagen, wo jedermann weiß, wie wenig du der Völlerei zugetan bist. Komm morgen zum Unterricht, ich habe etwas Interessantes für dich.“
Als sie ihn fragend ansah, fügte er hinzu: „Die Boten haben aus der Sixtinischen Kapelle Abbildungen gemacht. Zeichnungen der Werke von Buonarotti und Raffael. Sie sind so wunderbar, dass selbst die Heiden bei ihrem Anblick zum Glauben finden müssten. Doch ich habe auch einen herrlichen Holzschnitt des Meisters Albrecht Dürers mitgebracht. Auch wir haben große Künstler.“
„Die Boten von denen ihr sprecht, haben sie nur Kunstwerke mitgebracht?“
Der Abt erhob sich. „Ich kann hier dazu nichts sagen und muss jetzt zur Andacht in die Kapelle.“
Berangere war ebenfalls aufgesprungen und reichte ihm den Gehstock. Sie blickte ihm nach, wie er den Raum verließ. Er hatte Schmerzen, seine Gicht machte ihm in diesem feuchten Winter deutlich zu schaffen, auch wenn er selten klagte.
Sie verließ den anheimelnden Raum ebenfalls und begab sich in Eleonores Zimmer. Ihre Freundin war nicht dort. Seufzend nahm sie eine gebundene Bibel in die Hand, setzte sich auf einen Stuhl und begann zu lesen.
Ihre Geduld wurde auf die Probe gestellt. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich endlich die Türe öffnete und ihre Freundin den Raum betrat.
„Endlich,“ seufzte Berangere, „ich bin schon beinahe erfroren. Wo warst du nur?“ Sie zog Friedrichs Nachricht aus dem Ärmel und schwenkte ihn.
„Rate, was ich für dich habe.“
Eleonore, die bei ihrem Eintritt noch blass wirkte, bekam rotglühende Wangen. Ihre Augen leuchteten auf. Mit dem Zettel in der Hand sank sie auf ihr Bett.
„Er erwidert meine Gefühle. Berry, was soll ich nur tun? Ich werde nie wieder in der Lage sein, ihn anzusehen.“
„Natürlich wirst du ihn ansehen. Wenn du ihn unterschiedlich behandelst, wirst du den Gerüchten nur Nahrung geben. Du solltest ihm eine Antwort senden. Ich bin dir gerne behilflich, sie ihm zu überbringen.“
Eleonore senkte überlegend den Kopf und dachte nach. Schließlich rang sie sich zu einem Entschluss durch. Sie wählte ihre Worte mit Bedacht:
„Du bist mir eine so liebe und gute Freundin. Du hast durch diese Freundschaft zu mir mehr Nachteile als Vorteile.“ Sie wehrte ab, als Berangere etwas erwidern wollte.
„Die Tante verbot mir, dir etwas zu erzählen, doch wir teilen so viele Geheimnisse, du wirst auch nichts von dem verraten, was ich dir jetzt sage.“ Als Berangere stumm nickte, fuhr sie fort.
„Es handelt sich um deinen Vater.“ Sie hielt inne. Es war so schwierig, die Überbringerin einer schlechten Nachricht zu sein, doch war es sicherlich besser, wenn die Freundin in etwas gemilderter Form von ihr erfuhr, was geschehen war.
„Er ist von seiner Reise zurück und man sagt, der Kaiser sei unzufrieden über die Art der Durchführung. Er habe weniger nach Edelmetallen und










Erzen gesucht, wie ihm aufgetragen wurde. Anders als viele andere kehrte er nicht mit Gold zurück. Er scheint beim Kaiser in Ungnade gefallen zu sein und man hört, er wolle sich auf seine Ländereien zurück ziehen, wenn man ihn lässt.“
„Wenn man ihn lässt?“ Berangeres Lippen waren weiß geworden. In ihrem Innern breitete sich Kälte aus.
„Was bedeutet das? Hat man ihn gefangen genommen? Er ist doch eng mit Kaiser Maximilian befreundet.“
„Bitte beruhige dich, man hat ihn nicht gefangen genommen.“ Sie erhob sich und nahm die erstarrte Berangere in den Arm.
„Ich weiß nicht mehr, als ich dir sagte. Ebenso wie Tante Margarete werde ich für ihn eintreten, was immer vorgefallen sein mag. Er ist ein Freund der Familie. Du weißt, dass mein Bruder Karl auf dem Weg hierher ist. Auch ihn werden wir um Hilfe bitten. Es wird sich sicher alles wieder zum Guten wenden.“
„Wo ist mein Vater jetzt?“
„Das weiß niemand, doch ich verspreche dir, wir werden alles in unserer Macht stehende unternehmen, damit die Unstimmigkeiten ausgeräumt werden.“
„Kann ich mit der Erzherzogin sprechen?“
„Nicht mehr heute.“ Eleonore versuchte zu beschwichtigen. „Die Tante wird sicher morgen mit dir reden wollen.“
Berangere kämpfte um Haltung. Sie wollte sich nicht von Hilflosigkeit überwältigen lassen. Sie war abhängig. Das wurde ihr erschreckend bewusst. Sie richtete sich auf und lächelte Eleonore an.
„Du bist meine Freundin und wirst es immer bleiben. Ich werde abwarten und bin sicher, dass mein Vater nicht unehrenhaft gehandelt hat.“
Nachdem Berangere ihr Zimmer verlassen hatte, stand Eleonore noch eine Weile und blickte in die beginnende Dämmerung. Ihre Freundin war stets die Starke und Zuversichtliche. Es schmerzte sie zu sehen, dass sie jetzt in Schwierigkeiten war.
Ihre Gedanken kamen zu Friedrich zurück. Sie würde ihrer Freundin keine Antwort für ihn mitgeben. Noch einmal hatte sie ihn heute gesehen, als er ihr in der Gruppe der Männer entgegen kam. Seine Augen hatten sie festgehalten und gestreichelt. Bei diesem Gedanken wurde ihr warm. Nachsinnend betrachtete sie ihre Schreibutensilien, bevor sie die Feder eintunkt.


Ukuma ging neben seiner Herrin. Einem Sklaven hätte es angestanden, sich hinter ihr zu halten, doch Berangere achtete nicht auf ihn. Den vorhergehenden Abend hatte er beim Essen und Trinken mit dem Boten verbracht, der seine Leidenschaft für schnelle Pferde teilte. So wusste auch er schon, dass Berangeres Vater in Schwierigkeiten war.
„Es wird schon nicht so arg sein, Berangere. Klatsch und Neid sind immer ärger als die Wirklichkeit. Warum sollte der Kaiser auf einen Mann wie deinen Vater verzichten? Schlimmstenfalls kehrst du nach Frankreich zurück. Dort lebt es sich gut und der französische König wird euch mit offenen Armen aufnehmen.“
Seine dunklen Augen sahen sie aufmunternd an und sie fühlte sich etwas getröstet. Ukuma wusste immer Lösungen für die täglichen kleinen Probleme, doch diesmal stand es nicht in seiner Macht, ihr zu helfen. Trotzdem war es ein gutes Gefühl, ihn an ihrer Seite zu wissen.
„Ich höre nicht auf Dienstbotengerede,“ erklärte sie, doch ihre Augen lächelten. „Aber ich danke dir.“
Er öffnete ihr den großen Flügel zum Salon und sie trat ein. Sie würde sich gedulden müssen, die Erzherzogin alleine zu sprechen. Inmitten ihrer Damen saß sie angeregt plaudernd über feinen Stickereien, die man ihr reichte. Nur Elisabetha winkte ihr zu. Sie stand vor einer Staffelei und versuchte sich an einem Bild.
„Es tut mir leid zu hören, dass es Schwierigkeiten zwischen dem Kaiser und deinem Vater gibt.“
Berangere war vorsichtig. Sie betrachtete das Bild.
„Du hast einen guten Blick für Farben. Das Bild wird sicher sehr gut werden.“
„Danke, es ist soll ein Geschenk für meine Mutter zu ihrem Namenstag sein. Ich habe mir große Mühe damit gegeben. Eleonore meinte auch, es sei gelungen. Hast du sie heute schon gesehen?“
„Nein, ich bin ihr noch nicht begegnet.“
„Eigenartig. Sie ist weder zur Messe noch zum Unterricht erschienen.“
„Warum beunruhigt dich das?“
Elisabetha legte den Kopf schief und betrachtete mit gerunzelter Stirn kritisch ihr Bild, als sei die Unterhaltung im Grunde bedeutungslos.
„Ich mache mir Gedanken, ob sie sich unwohl fühlt.“
„In diesem Falle hätte die Zofe Nachricht gegeben.“
Nach und nach leerte sich der Raum, man bereitete sich auf das Mittagessen vor. Auch Elisabetha rieb ihre farbverschmierten Hände ab und verließ sie. Die Erzherzogin winkte sie zu sich. Mit klopfendem Herzen erwies sie ihre Reverenz und nahm auf einem angebotenen Stuhl Platz. Margarete saß in einem bequemen Lehnstuhl und bot ihr ein Getränk an, doch sie war nicht ruhig genug und lehnte ab.
Nachdem auch die letzte Dienstbotin gegangen war, konnte sie nicht mehr an sich halten.
„Liebste Tante, ich höre die schrecklichsten Gerüchte über meinen Vater. Könnt ihr mir sagen, was geschehen ist?“
Das Gesicht der Erzherzogin war freundlich, dennoch glaubte sie eine Spur von Zurückhaltung darin zu sehen.
„Noch vor kurzem sprachen wir davon, wie wichtig die Mission deines Vaters für den Kaiser ist, der Männer braucht, auf die er zählen kann.“
Berangere nickte beklommen.
„Dein Vater bekam einen klaren Auftrag. Bedauerlicherweise hat er sich nicht daran gehalten.. Er hat eigenmächtig das Reiseziel verändert, hat seine eigenen Interessen verfolgt und ist mit leeren Händen zurück gekommen. Kein Gold, keine andere kostbare Fracht, nicht einmal Gewürze. Welch eine Enttäuschung! Wie konnte er nur so handeln, ich verstehe es nicht.“ Erregt erhob sie sich und Berangere konnte nicht erkennen, ob es Zorn war, was ihr beinahe die Tränen in die Augen trieb.
Sie trat an den Kamin und stocherte in der Glut.
„Nächste Woche trifft Karl ein. Er berichtet mir, dass der Kaiser deinem Vater seine Gunst entzogen hat und dieser seitdem verschwunden ist. Er will sich den Anschuldigungen wohl nicht stellen. Sein gesamter Besitz, Schloss und Ländereien, soweit sie nicht auf französischem Land liegen, sollen dem Kaiser wieder zufallen.“
Berangeres mühsam aufrecht gehaltene Beherrschung brach zusammen.
Sie schluchzte leise auf. Dies war kein kleines Missverständnis. Keine Unstimmigkeit, es war das Ende ihrer bisher so behüteten Welt. Unter Tränen sah sie auf.
„Niemand weiß, wo er sich befindet?“
Margarete kam zurück und sank wieder auf ihren Sitz.
„Niemand weiß etwas über seinen Verbleib. Es ist mir unbegreiflich. Früher beneidete ich deine Mutter manchmal um ihn, doch nach ihrem Tode muss er sich sehr verändert haben. Ich bedauere dies, vor allem in Hinsicht auf deine Zukunft.“
„Was meint ihr damit? Was habt ihr mit mir vor?“
„Das wird der Kaiser und mein Neffe entscheiden.“
Als sie den angstvollen und verzweifelten Blick des Mädchens auffing, fügte sie besänftigend hinzu:
„Ich nehme an, man wird dich passend verheiraten oder als Hofdame unterbringen. Sprich mit Karl, bitte ihn und distanziere dich vom Verhalten deines Vaters. Wenn du ihm Treue schwörst, wird seine Enttäuschung nicht der Maßstab für seine Entscheidung sein.“
In Berangere regte sich leiser Widerstand bei ihren Worten, doch sie schwieg und erhob sich.
„Ich weiß, dass mein Schicksal bei euch in guten Händen ist und ihr nur das Beste für mich zu erreichen sucht.“
Sie hatte die Erzherzogin oft Tante genannt, obwohl sie dies nicht war. Nun schien ihr diese vertrauliche Anrede nicht mehr angemessen. Ihr Schicksal war keineswegs bei dieser Familie in guten Händen, die sich nicht scheute, die eigenen Töchter unter den übelsten Umständen für politische Vorteile zu verheiraten. Wegen ihr würde man sicherlich keine Ausnahme machen.
Im Gang wartete Ukuma, der ihr schweigend bis in ihr Gemach folgte. Leise schloss er die Tür.
„So schlimm, Bery?“
„Noch viel übler, als ich es mir je vorzustellen vermochte. Mein Vater ist verschwunden und ich bin auf Gnade und Gedeih einem Jungen ausgeliefert, dessen Unreife und Jähzorn mir nur zu bekannt ist. Ich kann nicht hier sitzen wie ein Opferlamm und auf den Meistbietenden warten.“
„Welche Möglichkeiten haben wir denn?“ Ukuma überlegte halblaut.
„Da ist zunächst die Flucht nach Frankreich.“
„Das ist unmöglich. Ich kann weder alleine reisen und ohne Mittel auch nicht standesgemäß.“
Im Laufe des Gesprächs hatten sie ihre Stimmen gedämpft, trotzdem öffnete Ukuma noch einmal die Tür und sah forschend hinaus. Doch niemand war zu sehen.
Berangere überfiel ein Gefühl völliger Verlassenheit. Missbilligend verzog sie das Gesicht, als Ukuma sich respektlos zu ihr setzte.
„Es ist nicht unmöglich. Du kannst dich verkleiden und nach Frankreich zurück kehren. Dein Vater überlässt dich nicht deinem Schicksal.“
„Mein Vater wird hier nach mir suchen. Karl kann jeden Tag eintreffen, doch es besteht kein Grund, überstürzt aufzubrechen. Ich werde abwarten.“
Ukuma seufzte leise. „Wie du meinst, doch ich halte es für einen Fehler, Zeit zu verlieren. Höre dir an, was Karl zu sagen hat. Vielleicht erhalten wir in der Zwischenzeit eine Nachricht von deinem Vater.“
Berangere sah ihn an und lächelte plötzlich.
„Du wirst nie ein Sklave sein wie die anderen, doch ich war selten so froh darüber. Du gehst jetzt besser.“
Er war schon an der Tür, als er sich noch einmal umwandte.
„Ich brauche vielleicht etwas Schmuck, um Vorkehrungen treffen zu können.“
Berangere zögerte keine Sekunde. Aus einer Schatulle zog sie eine Kette heraus und reichte sie ihm mit fragendem Blick, aber Ukuma wies sie zurück.
„Sie ist zu auffällig und kostbar. Gib mir den Edelsteinanhänger, er könnte als Gunstbeweis angesehen werden.
Sie errötete ein wenig. Sie versagte sich die Bemerkung, ob er schon des öfteren Gunstbeweise versilbert hatte.

In Garten war es windig, aber mild. Berangere löste die Brosche ihres wollenen Umhangs und schlenderte zwischen den Rabatten, die noch recht winterlich wirkten. Nur hier und da zeigten sich erste grüne Spitzen.
Vereinzelt begegnete sie Arbeitern, die erste Frühlingspflanzen einsetzten. Nach einer Weile kehrte sie in Schloss zurück. Schon vor Eleonores Räumen hörte sie deren laute und zornige Stimme. Sie schalt mit ihrer Zofe und überhörte das Klopfen an der Tür. Beim Anblick ihrer Freundin verstummte sie und beorderte die Dienerin hinaus.
Berangere bemühte sich vergeblich, beim Anblick von Eleonore ein Kichern zu unterdrücken.
„Es freut mich zu sehen, dass du deine gute Laune nicht verloren hast. Hast du mit Tante Margarete gesprochen?“
Missmutig nahm Eleonore ein Tuch und wischte sich die braune Paste aus dem Gesicht, die ihrer Haut zu mehr Glanz verhelfen sollte.
„Warte!“ Berangere griff nach einer Bürste und machte sich daran, die aufgelöste Frisur der Freundin zu richten.
„Ich habe mit ihr gesprochen. Sie bestätigte, was du schon sagtest.“ Sie hielt einen Moment inne und fuhr dann zögernd fort.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Vater einen Verrat begangen hat. Er handelt nicht unwürdig. Die Erzherzogin meinte, dass Karl eine Entscheidung treffen wird, was mit mir zu geschehen habe.“
Eleonore seufzte tief auf. „Er wird für uns beide Entscheidungen fällen.
Unsere gemeinsame Zeit geht vielleicht bald zu Ende. Wir hatten viel Freude an den gemeinsamen Unternehmungen, der Jagd und sogar am Unterricht. Nachdem ich den König von Polen nun nicht heiraten muss, trotz seiner Tugenden und Schönheit,“ sie betonte die letzten Worte mit tiefer Stimme und ahmte den Gesandten Kaiser Maximilians nach, „wird man sich nach einem anderen Bewerber für mich umsehen. Ich hoffe nur, dass er damit eine glücklichere Hand hat als bei Isabella und Maria. Meine Schwestern sind sehr unglücklich.“
„Bist du tatsächlich so gelassen? Fürchtest du nicht die Ablehnung eines Hofes, der dir nicht wohl gesonnen ist? Der Gedanke an eine solche Einsamkeit ohne Vertraute erschreckt mich.“
Über Eleonores Gesicht flog ein Schatten.
„Ich muss ebenso wie du auf Gott vertrauen. Es steht uns nicht zu, uns gegen das vorbestimmte Schicksal aufzulehnen. Ich bin bereit, an dem Ort meine Pflicht zu erfüllen, an den Gott und mein Kaiser mich stellt.“
Trotz der entschlossenen Worte zitterte ihre Stimme. Berangere nahm ihre Hand.
„Du bist schön und mutig, ich bin sicher, jeder wird dich lieben, wohin du auch gehst.“
Bei den liebevollen Worten brach Eleonores Haltung zusammen, ihre Kehle wurde eng.
„Friedrich bat mich, seine Frau zu werden und ihn in der Pfalz zu ehelichen.“ Sie weinte leise und fuhr stockend fort:
„Ich kann meine Familie nicht einfach verlassen. Ich wäre eine Ausgestoßene.“
„In der Pfalz würde man dich für dein Verhalten auch nicht achten. Du hast die Entscheidung schon getroffen. Diese leidenschaftlichen Gefühle vergehen schnell. Tante Margarete sprach oft darüber, wie sehr sie eine Ehe belasten.“
Eleonore hob ihr tränennasses Gesicht. „Mir erscheinen diese Gefühle ganz und gar nicht vergänglich. Ich werde Ferdinand immer lieben. Es gibt Ehen, wo man sich bis zum Tode liebt. Deine Eltern....“
„Meine Eltern waren nur kurze Zeit verheiratet,“ unterbrach Berangere sie heftig. „Wenn du mit Ferdinand gesprochen hast, habt ihr euch getroffen. Ich hoffe, du warst vorsichtig. Man hat nach dir gesucht.“
„Natürlich, außer dir, meiner Zofe und Friedrichs Diener weiß niemand Bescheid.“
„Warum ist deine Zofe eingeweiht?“ fragte Berangere alarmiert. Die wechselnden Kammerfrauen und Zofen waren stets dankbar für kleine Geschenke und gingen mit Informationen großzügig um.
„Sie ist zuverlässig, du brauchst dich nicht zu beunruhigen. Dich wollte ich nicht damit behelligen.“
Berangere griff nach dem Kamm. „Setz dich, ich werde deine Frisur richten, ich weiß, wie man das macht. Es sieht schwierig aus, aber ich habe mich schon einige Male alleine frisiert.“
Während sie geschickt mit Kämmen und Spangen hantierte, versuchte sie den Gedanken an den Abschied von ihrer Freundin zu verdrängen. Vermutlich würden sie sich nicht einmal verabschieden können.
Eleonore ahnte, was Berangere bedrückte.
„Du hast mit Tante Margarete gesprochen, was sagt sie?“
Berangere zuckte die Achseln. „Sie war über meinen Vater enttäuscht. Sie empfahl mir, mich von ihm los zu sagen und auf eine vom Kaiser arrangierte Heirat zu hoffen.“
„Dein Vater ist doch nicht plötzlich kopflos geworden. Wie könntest du dich von ihm abwenden?“ Eleonore schüttelte missbilligend den Kopf.
„Ich weiß nicht, wo er ist, und ich kann mich nicht gegen den Kaiser auflehnen. Es bleibt mir gar keine Wahl.“ Sie hielt noch immer den Kamm in der Hand und legte ihn auf den Kaminsims. Eleonore wandte sich zu ihr um.
„Nein, auflehnen kannst du dich nicht. Du kannst den Problemen aus dem Weg gehen, indem du auf deinen Besitz nach Frankreich zurückkehrst. Nimm einige vertrauenswürdige Männer zur Begleitung mit und reise ohne großen Aufwand ab.“
Berangere kämpfte gegen die Tränen. „Ich danke dir sehr für deine aufrichtigen Worte. Ich halte es jedoch für besser abzuwarten, was dein Bruder mir rät. Wir haben uns immer gut verstanden, er wird nicht gegen mich sein.“ Sie wechselte das Thema.
„Ich werde der Erzherzogin immer dankbar sein für die große Mühe, die sie auf unsere Erziehung verwandte. Wir haben soviel erfahren über Philosophen und Dichter, über Politik und Herrscherhäuser, niemand ist besser vorbereitet als wir, sich in fremder Umgebung zurecht zu finden.“
„Wir wissen nicht, was uns erwartet, doch auf welchen Platz wir auch gestellt werden, wir wollen Freundinnen bleiben. Manchmal geschieht es, dass man einen Menschen, ein kleines Kind oder auch ein Tier sieht, und sofort ist eine Verbindung da. Eine unerklärliche Zuneigung und ein Verständnis, dass man deutlich spürt. Einen solchen Fingerzeig Gottes darf man nicht außer acht lassen“


Die nächsten Tage verliefen ereignislos und im Rhythmus des normalen Alltags in Mechelen. Einen großen Teil des Tages nahmen wieder die Unterrichtsstunden ein, unterbrochen von den Gebeten und Mahlzeiten. Eleonore beantwortete gelegentlich Briefe von Friedrich. Zu einem Treffen war es nicht mehr gekommen und obwohl ihre Sehnsucht groß war, wollte sie keine Schwierigkeiten herauf beschwören. Berangere stand mit einigen jungen Engländerinnen im Hof und sprach über den üblen Geruch, der aus dem Brunnen stieg, als eine Gruppe Reiter sich im Galopp dem Schloss näherte. Es waren die Männer Karls. Eilig öffnete man ihnen das Tor und Berangeres Herz begann zu klopfen.
Mit einem kurzen Gruß raffte sie die Röcke und eilte in ihre Kammer.
Sie wollte innerlich und äußerlich gewappnet sein, wenn über ihr Schicksal entschieden wurde. Vom Fenster ihrer Kammer konnte sie nicht in den Hof einsehen, hörte jedoch an den lauten Rufen und dem eiligen Getrappel vieler Füße, dass Bewegung in das Schloss gekommen war. Nervös gab sie den Dienerinnen Anweisungen für ihre Kleidung und Frisur. Wo mochte sich Ukuma aufhalten? Seit zwei vollen Tagen hatte sie ihn nicht gesehen, was recht ungewöhnlich war.
Als die Glocke zur Abendmesse rief, ging sie dem besonderen Anlass entsprechend gekleidet zur Schlosskapelle. Gelassen nahm sie ihren Platz ein, die innere Anspannung war ihr nicht anzusehen. Nach einer Weile der Stille und des Gebetes erschienen Margarete und Karl mit ihrem Gefolge, zu dem auch Eleonore gehörte. Während der Messe betrachtete sie verstohlen den Bruder ihrer Freundin. Karl wirkte angespannt. Kein Wunder, dachte sie, er wollte sich zum Kaiser wählen lassen und besaß kaum die Mittel dazu. Er war noch ein junger Mann, kaum älter als sie selbst, doch sein Gesicht wirkte hart und verschlossen, nicht sonderlich anziehend. Obwohl sie häufig miteinander geredet hatten, erschien er ihr jetzt völlig fremd.
Nach der Messe versammelte sich der Hof im großen Saal, wo Karl und Margarete ihr Amt als Richter ausübten. Zumeist war es eine langweilige und unbeachtete Tätigkeit, bei der man um Zollrechte, Besitzansprüche oder andere gewinnbringende Einnahmen stritt. Nach Karls Reise erhofften alle Neuigkeiten, entsprechend groß war das Interesse. Eine langweilige erste Stunde verstrich, in der Berangere von einem Fuß auf den anderen trat. Sitzgelegenheiten gab es nur für die kaiserliche Familie, die sie durch die Menge kaum erblicken konnte.
Im ersten Augenblick glaubte sie noch, sich verhört zu haben, als man ihren Namen rief, während vor ihr schon eine Gasse entstand, um sie vortreten zu lassen. Karl beabsichtigte, ihre Zukunft in aller Öffentlichkeit zu besprechen und sie fühlte instinktiv, dass dies kein gutes Zeichen war. Nachdem sie sich verbeugt hatte, winkte Karl sie näher.
„Wir, das Haus Habsburg, haben deine Familie und dich stets als Freunde erachtet, die treu zu unserem Hause stehen. Wir haben Grund zu der Annahme, dass dein Vater nicht mehr unsere Interessen wahrt, sondern Kontakte zum französischen Hof vorzieht. Was weißt du darüber?“
Berangeres Kehle war trocken, sie schluckte. Sie nahm ihren Mut zusammen und straffte sich.
„Alles, was ich weiß, erfuhr ich von eurer Tante, der Erzherzogin Margarete. Ich bedauere, dass ihr über meinen Vater verärgert seit und mein Unwissen, dass ich nichts zur Klärung beitragen kann. Ich habe meinen Vater schon lange nicht mehr gesehen und meine Korrespondenz beschränkt sich auf wenige Schreiben. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass er nicht in eurem Sinne handelte, unsere Familien sind seit Generationen miteinander verbunden. Wenn ich einen Wunsch habe, dann möchte ich dazu beitragen, die Missverständnisse zu beseitigen.“
Karl betrachtete sie sinnend, den Kopf auf eine Hand gestützt.
„Eine Vermittlung ist nicht vonnöten, es handelt sich nicht um ein Missverständnis. Du verkennst die Lage. Dein Vater hat den Kaiser und mich nicht verärgert,“ er betonte das letzte Wort sarkastisch, „er befolgte unsere Befehle nicht und verriet uns. Wir haben dadurch große Verluste erlitten und werden dies nicht hinnehmen. Was erwartest du von deiner Zukunft und von uns?“
Sie bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.
„Ich habe mich der Erzherzogin anvertraut und ihr versichert, dass meine Gefühle zu euch lauter und voller Dankbarkeit sind. Ich könnte in meine Heimat zurückkehren, wenn ihr der Meinung seid, hier ist kein Platz mehr für mich.“
Karl hob die Augenbrauen und lächelte höhnisch auf sie herab.
„Wohin willst du gehen, etwa nach Frankreich? Wir haben uns entschlossen, dir eine Möglichkeit aufzuzeigen, wie du deine Loyalität unserem Hause gegenüber unter Beweis stellen kannst. Nachdem unsere teuere Schwester“ er warf einen unheilverkündenden Blick auf Eleonore, „den König der Polen als Gatten verschmähte, sucht dieser eine Gemahlin, um seine Verbundenheit mit uns zu festigen. Wir sind großmütig bereit, dir diese Verbindung zu ermöglichen. Die Interessen unseres Hauses zu vertreten wäre deine vornehmste Pflicht. Eine kluge junge Frau kann ein Pfeiler des Glaubens sein in einem Land, dessen Leben dem unseren noch immer fremd ist.“
Innerlich entsetzt, bemühte Berangere sich, ihr Gesicht ausdruckslos erscheinen zu lassen. Sie hatte eine Ermahnung oder Zurechtweisung erwartet. Doch dies übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen. Eleonore blickte verzweifelt zu ihr hinüber und wagte einen Vorstoß.
„Mein Bruder, bitte lass uns....“ Mit einer schroffen Handbewegung brachte Karl sie zum Schweigen und wandte sich wieder Berangere zu.
„Du wirst dich mit deinem Beichtvater besprechen wollen. Überlege dir meinen Vorschlag mit Bedacht und teile mir in spätestens drei Tagen deine Entscheidung mit.“
Sie war entlassen. Benommen und kaum noch etwas um sich wahrnehmend strebte sie dem Ausgang zu. Als der nächste aufgerufene Name langsam in ihr Bewusstsein drang, stockte ihr Schritt. Ungläubig wandte sie sich wieder um. Karl rief seine Schwester Eleonore vor sich. Die Zuschauer reckten die Hälse und tuschelten. Niemals hatte man erlebt, dass ein Mitglied der kaiserlichen Familie am Gerichtstag vortreten musste. Eine völlig verwirrte Eleonore erhob sich langsam und trat mit fragendem Blick vor. Karls Miene schien sich noch weiter zu verhärten, sein Gesicht glich einer Maske.
„Ich habe nicht glauben wollen, dass meine eigene Schwester, der ich stets Gefühle der Zuneigung entgegenbrachte, mich hintergeht. Ich nahm Rücksicht, als du mich batest, dich noch nicht zu verheiraten. Der Kaiser hat politische Nachteile in Kauf genommen, um dir Freiheiten zu erlauben.“ Seine Stimme begann, vor Empörung zu zittern.
„Unsere Großmütigkeit hast du damit vergolten, dich auf schamlose Weise zu vergnügen und unsere Absichten zu durchkreuzen.“
Bei seinen Worten war es zunehmend ruhiger im Saal geworden, inzwischen war es totenstill. Mit hängenden Schultern und tief errötet

21.11.

stand Eleonore vor ihrem Bruder. Sie hob in einer hilflosen Geste die Hand. Ihre Stimme war so leise, dass nur die unmittelbar Umstehenden sie hören konnten.
„Ich bin mir nicht bewusst, dich jemals betrogen zu haben. Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“
Karl griff in sein Wams und zog einen kleinen Zettel hervor. Die Röte in Eleonores Gesicht wich einer plötzlichen Blässe. Berangere bemerkte, wie sie schwankte. Sie erkannte den Zettel. Er war aus jenem Pergament, den Friedrich für seine kleinen Briefe an Eleonore benutzte.
„Meine geliebte Eleonore...“ begann Karl mit lauter Stimme vorzulesen. In der Gruppe der entsetzten Zuhörer entstand Bewegung. Friedrich von der Pfalz bahnte sich seinen Weg nach vorne. Er stellte sich neben Eleonore, verbeugte sich förmlich und erklärte:
„Ich stehe zu dem, was ich schrieb. Es gibt keine Notwendigkeit, den Brief coram publico vorzutragen. Ich bat eure Schwester meine Frau zu werden.“
Karl verschlug es für einen Augenblick die Sprache, dann fuhr er heftiger als zuvor fort: „Was maßt ihr euch an? Meine Schwester hat Verpflichtungen, denen sie sich ebenso wenig entziehen kann, wie jeder andere hier im Saal. Ihr wart mein Freund und Lehrer, Friedrich von der Pfalz, mehr als andere müsstet ihr wissen, dass eine solche Verbindung undenkbar ist. Wir haben viele Tage gemeinsam verbracht, nie hätte ich vermutet, dass ausrechnet ihr euch gegen mich stellt. Ihr wart mein Freund.“ Er hielt einen Augenblick inne und senkte den Blick. Als er ihn wieder hob, war keine Gefühlsregung mehr in seinen Augen zu erkennen.
„Ich will wissen, wie weit ihr euch vergessen habt. Habt ihr euch meiner Schwester in unsittlicher Weise genähert?“
Die Zornesröte flammte in Friedrichs Gesicht, aber er versuchte, sich zu beherrschen. „Natürlich nicht. Ich hege die tiefsten und innigsten Gefühle für Eleonore. Ich bitte nicht für mich, aber für eure Schwester, diese unwürdige Befragung zu beenden.“
„Unwürdig ist das, was zu dieser Befragung führte.“ Karl war nicht abzuhalten. Er ließ beide vor aller Augen auf die Bibel schwören, dass nicht mehr vorgefallen war, als einige Briefwechsel. Der gesamte Hof, sonst auf Skandale erpicht und klatschfreudig jedes Gerücht aufnehmend, war verstummt. Friedrich musste obendrein zusagen, den Hof umgehend zu verlassen und Eleonore nie wiederzusehen. Er tat dies mit zusammen gebissenen Zähnen und stand noch immer unbeweglich mitten im Saal, als alle übrigen schon gegangen waren.
Berangere trat auf ihn zu und legte ihre Hand auf seinen Arm.
„Wie ist es möglich, dass innerhalb weniger Tage nichts mehr so ist wie zuvor?“
„Wir haben nichts Unrechtes getan. Karl wollte erstmalig seine Macht demonstrieren und beginnt damit in der eigenen Familie. Er will jeden Widerstand im Keim ersticken. Er weiß noch nicht, was Liebe ist und selbst dann würde es seine Entscheidungen vielleicht kaum beeinflussen. Er handelt ganz im Sinne seines Großvaters. Was wirst du tun, Berangere? Den Polenkönig heiraten?“
„Ich weiß es nicht. Ich werde mit meinem Beichtvater sprechen, Gott um Rat und Hilfe bitten.“
Vor wenigen Tagen hatte sie noch angenommen, es könnte nicht schlimmer kommen, doch nun würde ihr niemand mehr helfen. Gegen den Enkel des Kaiser stellte man sich nicht.
„Vielleicht wäre diese Heirat nicht das Schlechteste,“ überlegte Friedrich, während sie gemeinsam zum Ausgang gingen. „Sigismund ist zwar schon beinahe fünfzig, aber ein sehr vitaler Mann, seine letzte Frau Barbara war kaum älter als du. Er ist ehrgeizig und offen für neues.“
Sie betraten den Hof und Friedrich ergriff ihre Hand.
„Ich muss den Hof verlassen, ich kann es kaum glauben. Wofür du dich auch entscheiden magst, ich wünsche dir Glück und Gottes Beistand.“
Berangere blickte ihm nach, wie er über den Hof verschwand und fragte sich, ob sie ihn je wiedersehen würde.
In ihrer Kammer sandte sie ihre Zofe aus, nach dem Verbleib von Ukuma zu forschen. Seine fortwährende Abwesenheit gab ihr zu denken. Doch es schien, als habe er sich in Luft aufgelöst. Sie brauchte Rat und wie immer in einer schwierigen Lage, suchte sie die Kapelle auf. Das Sonnenlicht brach sich in den bunten Scheiben oberhalb des Altares und malte bunte Kreise auf das weiße Altartuch. In einer stillen Seitenbank wartete sie geduldig, bis dass letzte „Ego te absolvo“ gesprochen war. Der Abt winkte sie in die Sakristei. Er schloss die Tür hinter sich und bedeutete ihr, Platz zu nehmen, während er selbst stehen blieb und sich streckte. „Mein Rücken, ah, langes Sitzen ist eine Prüfung. Worüber möchtest du mit mir sprechen? Du sollst wissen, dass ebenso wie bei der Beichte kein Wort diesen Raum verlassen wird.“

22.11.

„Ich habe euch immer vertraut.“ Berangere lächelte leicht, dann wurde ihr Gesicht wieder ernst. „Ihr habt sicher schon von meiner Lage erfahren. Karl schlägt mir vor, den polnischen König zu heiraten.“
Es schmerzte den Abt, das junge Mädchen an eine ungewisse Zukunft zu verlieren. Sie besaß seine Zuneigung, wenngleich er sich hütete, dies allzu deutlich zu zeigen.
„Hast du Sigismund schon einmal ernsthaft in Betracht gezogen? Als Karl ihn für Eleonore vorschlug, wurde er recht ausführlich beschrieben. Er ist nicht so ein Ungeheuer wie Christian von Dänemark, sondern ein gläubiger und feinfühliger Mensch. Auch sein Alter muss kein Nachteil sein. Er ist politisch erfahren und klug. Solltest du mit dem Gedanken spielen, nach Frankreich zurück zu kehren, könnte die Wahl des französischen Königs für dich schlechter ausfallen.“
„Ich habe daran gedacht, nach Frankreich zu reisen,“ gab sie aufseufzend zu. „Ich möchte nicht heiraten, noch nicht. Ich habe das Gefühl, noch Zeit zu brauchen, es geht alles zu plötzlich.“ Tränen traten in ihre Augen, sie wischte sie verlegen weg. Sie war nicht die Einzige, die früh heiratete, einige waren gar noch Kinder, wenn sie an fremde Höfe geschickt wurden.
„Ich wünschte, mein Vater wäre hier, um mir zu raten. Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt.“
„Ich bin ganz sicher, dass er lebt.“ Tröstend legte der Abt die Hand auf ihre Schulter. „Im Falle seines Todes hätte man ihn gefunden und uns berichtet. Wenn dein Vater hier wäre, würde ich dir raten, nach Frankreich zu gehen. Alleine und schutzlos kannst du jedoch nicht reisen. Du bist ein kluges Mädchen, Gott hat dir Schönheit geschenkt, setze deine Gaben und Fähigkeiten ein. Du kannst viel Gutes tun, wenn du in dieses Herrscherhaus heiratest. Solltest du dich dazu nicht entschließen können, steht dir der Weg in ein Kloster immer offen.“
„Wo immer ich sein werde, ihr werdet mir sehr fehlen. Euer Rat und Beistand...“ Sie konnte die Tränen nicht mehr zurück halten.
„Fasse dich, mein Kind. Die Furcht vor Veränderungen ist zumeist schlimmer als die Veränderung selbst. Du wirst mir ebenfalls fehlen, ich habe dein Lachen sehr gerne gehört. Der Herr im Himmel lenkt unser Leben oft auf unerklärliche Weise, doch wir dürfen den Mut nicht verlieren.“
Als die die Kapelle verließ, fühlte sie sich etwas erleichtert. Es dämmerte schon und vor der Kapelle erwartete sie eine vertraute Gestalt.
„Ukuma,“ rief sie, mehr erleichtert als erzürnt. „Wie freundlich von dir, dich noch einmal blicken zu lassen.“
In wortlosem Einverständnis schlugen sie den Weg zu den Ställen ein. Die Knechte hatten ihre Arbeit beendet und waren auf dem Weg ins Gesindehaus. Ukuma fasste Berangeres Arm und zog sie schnell in eine dunkle Ecke, die von der Stalllaterne nicht erfasst wurde. Bevor sie empört protestierte, flüsterte er ihr zu: „Ich habe Nachricht von deinem Vater. Er lebt und ist gesund.“
„Wo ist er?“ Sie vergaß vor Aufregung, ihre Stimme zu dämpfen. Ukuma gab ihr ein Zeichen zu schweigen und lauschte einen Augenblick. Dann fuhr er leise fort: „Nicht weit von hier. Er hat sich große Sorgen um dich gemacht. Er bereitet eure Flucht nach Frankreich vor, es ist gefährlich für ihn zu bleiben. Packe das Nötigste zusammen, lass dir nicht von den Dienerinnen helfen. Vor allem aber, sprich zu niemandem, auch nicht mit dem Abt.“
Unwillig trat sie einen Schritt zurück. „Ich bin nicht so dumm, wie du zu glauben scheinst. Ich werde schnell bereit sein.“
Zu Ehren von Karls Rückkehr war das Schloss hell und festlich erleuchtet. Schon von weiten wehte ihnen der Geruch nach frisch gebratenem Fleisch und Gebackenem aus den Wirtschaftsräumen entgegen. In den Gängen bewegten sich gut gekleidete Gäste aus der Umgebung, Kuriere und Adlige, die Margarete zum Nachtmahl und anschließendem Fest geladen hatte. Ein Gaukler stellte sich Berangere in den Weg und versuchte, seine Späße zu machen, wurde aber von Ukuma kurzerhand zur Seite geschoben. Sein Gelächter hallte noch hinter ihnen her, als eine Zofe vor ihr knickste. Es war Eleonores Kammerfrau, die sie bat, ihr zu ihrer Herrin zu folgen. Nach einem kurzen fragenden Blick auf Ukuma willigte sie ein.
Eleonores Räume waren großzügig und prächtig ausgestattet. Durch ein kleines Empfangskabinett führte die Kammerfrau sie in den Wohnraum, wo Eleonore sie mit verweinten Augen erwartete. Sie schickte die Dienerin hinaus und zog Berangere auf den Sitz neben sich.
„Hast du gehört, dass ich Friedrich nie wieder sehen soll? Wie kann mein Bruder so grausam sein, was haben wir denn getan?“ Sie brach in Tränen aus und zerknüllte das schon feuchte Spitzentuch in ihrer Hand.
„Tante Margarete sagt mir, sie habe alles versucht, ihn davon abzuhalten, mich in aller Öffentlichkeit bloß zu stellen, doch in seinem Zorn habe er sich allen Bitten und Argumenten verschlossen. Eine solche Demütigung vor aller Augen! Kannst du dir vorstellen, dass man Friedrich sogar verdächtigte, sich durch eine heimliche Heirat Vorteile zu erschleichen? Karl wird dich zwingen, Sigismund von Polen zu heiraten und ich werde möglicherweise noch bedauern, diesen Mann abgelehnt zu haben.“
Schweigend hatte Berangere dem Ausbruch der Freundin zugehört. Sie strich ihr über das Haar und legte den Kopf auf ihre Schulter. Eine Weile saßen sie stumm beieinander, bis Eleonore wieder zu schluchzen begann.
Auch Berangere war das Herz schwer, obwohl die Aussicht, ihren Vater wiederzusehen, sie tröstete.
„Eleonore, wir sollten voneinander Abschied nehmen. Wir wissen nicht, ob wir dazu noch einmal Gelegenheit haben. Erinnerst du dich an unser Gespräch vor kurzem? Du sagtest, dass du auf Gottes Hilfe baust, wohin er dich auch immer stellt.“
Eleonore nickte. „Es scheint schon lange her zu sein, dass wir unbeschwert scherzten, dabei sind nur Tage vergangen. Lass mich dir zum Abschied und als Zeichen unserer Freundschaft etwas schenken.“ Sie erhob sich und brachte aus ihrem Schlafgemach eine kleine holzgeschnitzte Figur der Gottesmutter, die sie Berangere reichte.

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